Antje Vollmer:
Der Nationalismus hat nichts Heiliges an sich
(Interview mit der tschechischen Wochenzeitung Echo 24 am 20.2.2015)
Echo: Was hat Sie zu dem Aufruf der 60 eigentlich veranlasst?
AV: Die Ursache war, dass ein Gesprächsforum nach dem anderen, das
vorher zwischen Deutschen und Russen existiert hatte, eingestellt wurde.
Man hatte den Eindruck, es geht nicht mehr nur um die
Wirtschaftssanktionen, sondern um generelle Kontaktsanktionen. Das letzte
in der Reihe war der Petersburger Dialog, ein Forum, gegründet 2001, auch
das wurde kurzfristig abgesagt. Und Einige, die an diesem Dialog
teilgenommen hätten, empfanden das als eine falsche Entscheidung. Auch
beunruhigte uns, wie sich die Situation in der Ostukraine zuspitzt.
Wozu sind denn solche Gesprächsforen gut?
Ich habe ja selbst einmal ein deutsch-tschechisches Gesprächsforum
mitinitiiert, damals, als wir den deutsch-tschechischen Zukunftsfonds
eingerichtet haben.
Bei solchen Foren geht es immer darum, zivilgesellschaftliche Kontakte
gerade
in historisch belasteten Verhältnissen aufrechtzuerhalten.
Im deutsch-tschechischen Fall ging es aber um einen historischen
Ausgleich, für den jetzt zwischen Deutschland und Russland doch kein
Bedarf ist.
Das Verhältnis zwischen Deutschen und Russen ist doch seit Jahrhunderten
eine Schicksalsfrage Europas.
War es schwierig, so verschiedene Leute auf eine Unterschriftenliste zu
bekommen?
Eine so prominente Liste hat es in Deutschland selten gegeben. Es ist
festzustellen, dass trotz unserer extrem russlandkritischen Medien und
einer russlandkritischen Haltung in fast allen Parteien im Bundestag – bis
auf die Linken standen alle hinter den Sanktionen – die deutsche
Bevölkerung mit über 60 Prozent sagt: wir wollen eine Verständigung mit
den Russen. Es herrscht also ein ganz grosser Widerspruch zwischen der
Meinung der Machteliten und der Meinung der Bevölkerung. In unserem
Aufruf haben wir nur Politiker angefragt, die nicht mehr im Amt sind.
Bewusst, weil wir Personen mit einer grossen Erfahrung aus der Zeit der
Entspannungspolitik und der damaligen neuen Ostpolitik suchten, aber
auch Menschen, die nicht unter dem Tagesdruck der Parteidoktrinen sind.
Es ist schon erstaunlich, dass unter den Unterzeichnern sowohl CDU-
Politiker, wie der frühere Bundespräsident Roman Herzog, wichtige
Nachkriegspolitiker von den Sozialdemokraten, wie z.B. Hans-Jochen Vogel,
wichtige Vertreter der Ökumene vertreten sind, aber auch Bürgerrechtler
aus der Zeit um 1989.
Wo ist hier Helmut Kohl geblieben?
Helmut Kohl ist sehr krank. Wir haben auch mit Hans-Dietrich Genscher, der
auch ernsthaft krank ist, und mit Egon Bahr gesprochen. Und ich glaube,
dass wir nicht zu viel behaupten, wenn wir sagen: die teilen alle unsere
Sorge. Helmut Kohl hatte sich schon früher selbst kritisch zur Zuspitzung
der Krise geäussert, auch Helmut Schmidt in einem Brief an Kohl, etc. Uns
ging es darum, viele kritische Einzelstimmen endlich zusammenfassen.
Wenn sich die Lage noch dramatisch zuspitzt, muß man handeln könnnen.
Die Gruppe besteht, wir sind jetzt 77 Erstunterzeichner.
Einen Unterzeichner will ich noch erwähnen – Gerhard Schröder. Ist das
nicht hinderlich, einen Namen da zu haben, der auch auf der Payroll des
Gazprom steht?
Wir haben uns das natürlich auch gefragt, aber ich bin der Meinung, dass
dieser persönliche Sanktionsstil: "Du bist eine persona non grata", mal
aufhören muss. Und gerade in der Frage Krieg oder Frieden verdanken wir
Gerhard Schröder eine Menge, weil er damals ein klares Nein zum Irak-Krieg
gesagt hat.
Wie ist diese Kluft zwischen der Bevölkerungs- und der Elitenmeinung im
Bezug auf Russland entstanden?
Es hat in den Neunzigern überall in Europa einen Elitenwechsel gegeben.
Die Politiker, die aus der Kriegserfahrung und der Zeit der europäischen
Versöhnungspolitik gekommen sind, wurden durch die ersetzt, die geprägt
sind von der Überlegenheit der westlichen Ideen in Folge von 1990. Sie
bilden eine neue Führungsschicht in der Politik, aber auch in den Medien.
Sie zeigen zwar ein hohes Selbstbewusstsein, aber auch einen Mangel an
Sensibilität für die Verlierer dieser Prozesse. Nach 1990 gab es nicht nur
Gewinner. Neben dem politischen Wechsel hin zur westlichen Demokratie
gab es zugleich auch die Globalisierung mit sehr viel existentieller
Unsicherheit, Arbeitslosigkeit, und die digitale Revolution. Viele Menschen
empfinden sich als Verlierer dieser Entwicklung. Die jetzt herrschenden
Eliten leiden manchmal an einem gewissen Narzissmus, haben nicht genug
Gespür für soziale Verwerfungen. Die erfolgreichen demokratischen
Revolutionen, die es seit 1990 gegeben hat, führten in einigen Ländern zu
wunderbaren Entwicklungen, und ich verstehe dieses Glück durchaus. Aber
in anderen Ländern entstand ein erhebliches Chaos mit dramatischen
Existenzunsicherheiten für ganze Staaten und Bevölkerungsschichten - und
wir sollten uns überlegen, ob wir Russland beschleunigt auch in diese
Richtung drängen wollen. Die Elitenstrategie wiegt sich in der Hoffnung,
wenn wir so fortfahren mit der Propagierung unserer Werte, dann werden
wir in 20, 25 Jahren eine solche friedliche Revolution auch in Moskau haben
– und dann steht am Ende ein rein westlich-orientiertes Europa. Aber selbst
die russischen Oppositionellen sagen heutzutage: für diese Strategie
gewinnt man höchstens 10, 12 Prozent der Bevölkerung in Russland.
Sehen Sie diesen Konsensus der Eliten aus den 90ern, als der Westen im
Zenit stand, langsam am Ende?
Ja, so sehe ich das. Die so idealistischen westlichen Eliten aus der Zeit
nach 1990 sollten sich nüchtern eingestehen: Wir haben jetzt in so vielen
Teilen der Welt versucht, unser System zu installieren - die westlichen
Werte, die Libertinage, die neoliberalen Finanzmärkte. Was ist das
Ergebnis?: Ein völlig destabilisierter Nahe Osten, Afghanistan, Pakistan,
lauter destabilisierte Regionen, und da wollen wir ein destabilisiertes
Russland dazu? Und am Ende noch ein destabilisiertes China, auch da
haben wir noch demokratische Optionen…? Die, die diese Vorstellungen
vertreten, müssen doch irgendwann die Realität ernst nehmen und sich
fragen: Taugt das Konzept? Mich wundert am allermeisten, dass eine solche
offensive und harte Strategie gerade von den glücklichen Gewinnern der
letzte 25 Jahre kommt, denen sich damals die Welt geöffnet hat und die
unglaubliche Karrieren machen konnten, also allen Grund zum historischen
Großmut hätten.
Unter ihrem Aufruf sind überwiegend ältere Leute, in der Exekutive und in
den Medien jüngere. Ist das auch ein klassischer Generationenkonflikt?
Vielleicht. Auf der einen Seite sind die Leute, die die Erfolge der Neunziger
als Politikmethode erlebt haben, auf der anderen Seite haben viele der
Unterzeichner die Zeit der gefährlichen Konfrontation zwischen Ost und
West noch erlebt, die Krise der gegenseitigen atomaren Bedrohung. Letztere
erscheinen mir heute realpolitischer, und vielleicht haben sie auch noch
mehr Kenntnis von der anderen Seite des Konfliktes. Man darf nicht
vergessen: Die Russen sind nicht in einem offenen Krieg besiegt worden,
sondern in einer Auseinandersetzung und einem Versuch der Selbst-
Befreiung, wo sie selber entscheidend mitgeholfen haben, dass die
Konflikte nicht blutig verlaufen sind. Es ist doch eine interessante Frage:
Wie geht man mit einem Land um, das in einer entscheidenden
Umwälzungsphase nicht gewalttätig reagiert hat? Man hat den Russen dafür
nicht einmal gedankt. Und das können sie heute an Gorbatschow sehen, der
tief verbittert ist und sagt: "Ich kriege heute die Quittung dafür, dass wir
keine Machtpolitik eingesetzt haben. Für unseren Verzicht auf Gewalt hat
man uns immer schlechter behandelt." Einer der Kritikpunkte lautet:
Russland vertritt das Konzept einer Einflusssphäre. In Wahrheit hat aber
doch der Westen seine Einflusssphäre bis an die russische Grenze
ausgedehnt.
Wo hätte der Westen Halt machen sollen in Ausdehnung seiner
Einflusssphäre?
Er mußte jeden Schritt diplomatisch begleiten und überhaupt mit den
Russen reden.
Gorbatschow fühlt sich offensichtlich betrogen, war schon die erste Runde
der NATO-Erweiterung um Tschechien, Polen und Ungarn ein Betrug auf die
Russen?
Es war sozusagen ein gebrochenes Versprechen, aber die Russen haben es
akzeptiert, weil mit ihnen geredet wurde, weil man ihnen vertiefte
Zusammenarbeit auf vielen Gebieten angeboten hat. Sie hatten ja damals
selbst ein Interesse, mit dem Westen zu kooperieren. Im Bezug auf die
Ukraine wurde mit den Russen gar nicht mehr geredet. Ein zentraler Satz
aus unserem Aufruf ist: Die Russen haben ein ebenso berechtigtes
Sicherheitsinteresse wie die Ukrainer, die Balten, die Polen... Nicht ein
grösseres, aber ein genauso berechtigtes wie die anderen Staaten.
Wobei die Russen die Balten oder Ukrainer immer angegriffen haben, es war
nicht umgekehrt. Ist deshalb das Sicherheitsinteresse der Balten nicht
verständlicherweise grösser als der Russen?
Berechtigte Sicherheitsinteressen der Balten, Polen, Tschechen, aller
anderen, die verdienen die größte Beachtung - aber die sind ja auch
grundsätzlich und umfassend gesichert, in der EU und vor allem in der
NATO. Wenn ein Russe auch nur einen Fuss breit über die Grenze geht,
bricht ein Weltkrieg aus. Einen größeren realen Schutz kann man nicht
geben. Traumata aber kann man nur durch Versöhnungspolitik überwinden,
nicht durch erneuerte Feindbilder. Im Kern geht es bei den Traumata doch
um eine Auseinandersetzung mit dem Stalinismus. Den aber gab es in
Polen, in der Ukraine, in Tschechien,, in der DDR. Man kann ihn nicht allein
den Russen anlasten, die darunter genauso gelitten haben wie die anderen
Völker der Sowjetunion.
Wie bewerten Sie Angela Merkel visa vis der ukrainischen Krise? Lange galt
sie in den deutschen Verhältnissen als eine Art Hardlinerin.
Erstens habe ich im Moment den grössten Respekt vor dem, was sie jetzt
tut.
Es ist richtig, zu versuchen, den wirklich drohenden Krieg zu verhindern,
und zwar konsequent mit Verhandlungen. Die bisherige Sanktions-Politik
gegenüber Russland war kontraproduktiv. Das war ja eine Träumerei, ohne
Kenntnis der Dramatik der Situation. Wir haben den Aufruf deshalb
geschrieben, um die Leute wachzurütteln: Es ist gefährlicher, als ihr denkt,
die Diplomaten haben es vielleicht nicht in der Hand. Also - sie macht jetzt
etwas Richtiges, ich würde trotzdem sagen, es war fast zu spät. Hoffentlich
ist es noch früh genug.
Merkel hat ja mit Putin oft telefoniert, war es nicht eine genügende Chance
für ihn, seine Anliegen auszutragen?
Telefonieren ist keine gute politische Methode. Telefonieren heisst: man gibt
dem anderen seinen Standpunkt zur Kenntnis. Immer nach dem Anruf hat
der Pressesprecher von Frau Merkel das kundgemacht und dann gesagt:
Frau Merkel hat gewarnt, gemahnt, eingefordert. Das Telefon ist nur ein
besserer Lautsprecher für das eigene Publikum. Von Gesicht zu Gesicht
verhandelt man wirklich geheim, und es ist auch wirksamer. Horst Teltschik
kann erzählen, wie die Verhandlung mit Gorbatschow lief, da hat sich 1989
wirklich etwas verändert in den Gesprächen unter vier Augen.
Ist die Analyse richtig, die sagt, Frau Merkel wäre härter im Umgang mit
Russland, wenn es russlandfreundlichere Strömungen in deutscher
Öffentlichkeit nicht gäbe? Also dass sie solche Impulse wie Ihren Aufuf der
60 in Betracht ziehen muss?
Ich glaube, Angela Merkel hat eingelenkt, weil sie die reale Gefahr begreift.
Die Politik der Sanktionen muss ja irgendwann belegen, dass sie Erfolge
hat. Wenn man die Methode verfolgt: Wir isolieren die andere Seite, auch mit
Sanktionen, damit die russische Wirtschaft einbricht, der Rubel verfällt -
sollte man sich ein Jahr später wenigstens fragen: Hat man eine Wirkung
erzielt im Sinne der Verständigungsbereitschaft der Russen? Nein.
Deswegen hat auch Henry Kissinger gesagt: Seid vorsichtig, wenn man mit
solchen Mitteln das Ziel nicht erreicht, muss man die Instrumente
überprüfen.
Soll man den Sanktionen nicht noch mehr Zeit lassen, damit sie wirklich
durchgreifen?
Das ist wie Pfeifen im Walde, mit dem man sich selbst die Angst vor der
Erfolglosigkeit vertreibt.
Will man in Russland einen noch radikaleren extremen Nationalisten an die
Macht bringen? Dann haben wir den Effekt des Versailler Vertrages in
Deutschland, wo Hitler aus dem Gefühl der Demütigung der Deutschen
seine ganze Agitation aufgebaut hat. Wollen wir, dass Rußland in ein
wirtschaftliches Chaos versinkt und zu noch einem radikaleren
Chauvinismus greift?
Musste also die Kanzlerin Rücksicht auf die Meinungen im Volk nehmen?
Sie nimmt immer Rücksicht auf die Bevölkerungsmeinungen. Bei uns war
aber die geforderte "schwarze Pädagogik"gegenüber Russland im
wesentlichen eine Elitenforderung und ein Ergebnis der Darstellung des
Konflikts in den Medien. Angela Merkel hat oft ihre Politik im Sinne unserer
Medien ausgerichtet. Und sie vertrat zunächst die Position: Ich halte lieber
Europa zusammen und verzichte deswegen auf die Rolle der Vermittlerin
gegenüber Russland. Weil sie an der Scheidegrenze der beiden Systeme
lagen, haben in der Vergangenheit die Deutschen eher eine vermittelnde
Position gehabt. Das galt seit der Entspannungspolitik von Willy Brandt, die
letztendlich auch Helmut Kohl fortgesetzt hat, bis zur Wiedervereinigung. Es
war eine Politik im Bewusstsein der gemeinsamen gesamteuropäischen
Interessen, dass wir nicht ausser Acht lassen konnten, dass auch die
Russen nach Europa wollen. Das hat sich heute verändert, die Russen
gelten einigen heute als ein zu vernachlässigender Faktor in Europa, die EU
sei grösser und wichtiger und rein westlich geworden. Deswegen hat Angela
Merkel vorrangig die Funktion erfüllt, die EU zusammenzuhalten, inklusive
der Polen, der Balten, der Tschechen usw. Aber so kann man dann in der
Krise nicht mehr die Vermittlungsposition wahrnehmen. Auch deshalb
fühlen sich die Russen am meisten von den Deutschen betrogen. Nicht von
den Balten, nicht von den Tschechen. Sie sagen: Wir haben doch in der
Hoffnung auf eure gesamteuropäischen Visionen diesen relativ gewaltfreien
Wandel, diese völlige Umwälzung unseres Landes vorgenommen. Wir haben
gedacht, wir sind in Europa willkommen, und wir werden einen
Wirtschaftsraum von Vladiwostok bis Lissabon bekommen. Und wo seid ihr
Deutschen jetzt?
Wie ernst meinen es die Russen, wenn sie den Deutsche vorwerfen, ihr seid
nicht dankbar?
Schon vor vielen Jahren konnte ich in einer kleinen Runde mit Gorbatschow
in Italien wahrnehmen, wie viel Erbitterung in ihm ist. Die Hoffnung, die
Gorbatschow gehabt hatte, war, dass sich der Westen viel mehr verändern
würde, als er sich verändert hat. 1990 gab es zweierlei westliche Strategien.
Erstens die, ein gesamteuropäisches verändertes Sicherheitssystem
aufzubauen und im Prinzip auch die Russen daraus nicht auszuschliessen.
Die andere wollte die Gunst der Stunde nutzen und eine ungebrochene
Ausdehnung des westlichen Systems auf möglichst viele Länder. Was bei
dieser gefühlten Überlegenheit der westlichen Ideale verloren gegangen ist,
ist das Gespür für die soziale Sicherheit und auch die Würde ganzer
Gesellschaften. Auch im Westen entwickeln sich übrigens einzelne Länder
dramatisch auseinander, zur Zeit gerade Deutschland und Griechenland.
Wie sehen Sie die innenpolitische Entwicklung in der Ukraine in den letzten
Jahren?
Die Ukraine hatte 2004 eine erste demokratische Revolution, aber was ist
danach passiert? Sieben Oligarchen haben den Reichtum des Landes in ihre
Hände gebracht, an die Demokratie und den Aufbau eines Rechtsstaat
haben sie relativ wenig gedacht, Frau Timoschenko genauso wenig wie Herr
Janukowytsch. Sie haben vollkommen versäumt, ihr Land zu vereinen. Sie
haben nicht eine Politik gemacht, die auch die Interessen der Ostukraine mit
vertritt, sondern nur ihren egoistischen Vorteil verfolgt. Die Wahl von
Janukowytsch - ob er uns passt oder nicht - war demokratisch. Als am
21.Februar 2014 in Kiew mit den Aussenministern aus Polen, Frankreich und
Deutschland auch der ukrainische Präsident mit den vereinbarten
Neuwahlen faktisch seine eigene Absetzung unterschrieben hatte, war es
nicht legal, weiter zu eskalieren. Westliche Politiker haben auf dem Majdan
Versprechungen gegeben: Wenn Ihr hier kämpft, werden wir euch schon
helfen! Ich finde das nicht sehr moralisch, andere Leute ins Feuer zu
schicken.
Was stellen Sie sich als ideale Lösung für die Ukraine vor?
Das wichtigste ist das Land zusammenzuhalten und in seinen jetzigen
Grenzen zu sichern. Mit einer Verfassung, die den östlichen Regionen eine
Autonomie gibt. Denn das Land war schon vorher vollständig zerrissen,
aber nach dieser Kriegserfahrung wird es wohl noch schwieriger werden. Im
Augenblick sehe ich eine riesengrosse Gefahr, dass sich die Ukraine in eine
Art Syrien verwandelt. Es gibt da jede Menge ausländischer Söldnertruppen
- auf beiden Seiten der Fronten. Länder, die ausser Kontrolle geraten, ziehen
immer Desperados aus der ganzen Welt an, die von der etablierten Politik
dann schwer zu bändigen sind.
Und der Einwand, dass es dem Putin gar nicht um Ostukraine geht, sondern
dass er ganz Mittelosteuropa ins Wanken bringen möchte?
Das ist eine Dämonisierung und eine falsche Obsession. Dieses Ziel, alle
russische Minderheiten "heim ins russische Reich" holen zu wollen, hieße
doch, dass Russland auf 50 Jahre in Kriege verwickelt wäre, oder
irgendwann auf den großen Krieg mit dem Westen abzielt.. Das kann kein
halbwegs rationaler Politiker wollen. Ich glaube, es geht Moskau im Moment
gar nicht um Landgewinn, sondern um einen Ausweg, um Verhandlungen
auf Augenhöhe, um Respekt.
Das Weisse Haus hat jetzt andeuten lassen, dass Putin gar nicht so rational
denkt.
Die Amerikaner haben auch proklamiert, Russland sei eine "minderwertige
Regionalmacht". Das sind Macho-Sprüche. Übrigens scheint auch bei uns
in den Medien Russophobie die einzige Phobie zu sein, die noch erlaubt ist.
Welche konkrete Beispiele für die Russophobie gibt es in deutschen
Medien?
Alle Aggressionen konzentrieren sich auf Putin als Inkarnation von Stalin
oder
des Bösen schlechthin. In den Phantasien wird Putin immer mächtiger und
immer schrecklicher. Das bringt nichts. Über Gorbatschow wussten wir
anfangs nichts, Helmut Kohl hat z.B. gesagt: er ist ein neuer Goebbels, alles,
was er sagt ist pure Propaganda. Zu Gorbatschows Zeiten wollten die
Sowjets im Prinzip nichts anderes als die Tschechen und die Polen Sie
wollten sich nach Westen orientieren und wegkommen vom Stalinismus.
Ich verstehe nicht, dass man diese Sehnsucht bei den anderen Völkern
akzeptiert und bei den Russen einen genetischen Defekt vermutet, dass sie
nicht europa- oder demokratietauglich sind. Das Plan war aber nie: Alle
dürfen reinkommen, in die NATO und EU, nur die Russen nicht.
Aussenminister Steinmeier sagte bei der Wehrkunde in München zu den
Amerikanern, stellvertretend für Deutschland: wir wissen über Osteuropa
ein bisschen mehr als ihr.
Das ist auch richtig. Man hat einfach von Völkern, mit denen man eine so
dramatische, belastete Geschichte gemeinsam teilt, eine bessere Kenntnis.
Aber wir sind ja auch ganz anders betroffen als Amerika. Ich bin mir sicher,
dass ganz Europa destabilisiert würde, wenn wir uns in eine Eskalation
militärischer Konfrontationen um die Ukraine begeben würden.
Sie selber nannten die deutsch-russischen Beziehungen eine
Schicksalsfrage Europas. Worin liegt dieses Schicksalhafte?
Ohne die Russen, das ist ganz klar, hätte es keine Wiedervereinigung
gegeben. Ich war damals in Paris, in London, alle haben gedacht, die
Russen werden
schon die Wiedervereinigung Deutschlands verhindern. Es war das
Geschick
von Helmut Kohl, durch Vier-Augen-Gespräche den Russen zu vermitteln:
es
wird gut sein für ganz Europa, auch für Russland! Denn die
Wiedervereinigung Deutschlands ist nur ein Anfang der grossen
Vereinigung Europas, die wir anstreben und bei der Russland einbezogen
wird. Deswegen sind auch Leute
wie Kohl oder Genscher heute so nervös, weil sie sich sehr wohl daran
erinnern.
Warum haben die Russen damals die freien Entwicklungen der anderen
Völker nicht gehindert – aus Einsicht, oder aus Schwäche?
Ja, klar, Russland war in vielem am Ende, aber trotzdem hätten sie immer
noch mit ihren Waffen ein wahnsinniges Blutbad anrichten können. Es war
Einsicht auf russischer Seite, die Soldaten in den Satellitenstaaten in den
Kasernen zu lassen. Aber im Westen verbreitet sich heute bei den Eliten der
Eindruck: Es waren nur die Demonstrationen auf der Strasse, es war nur die
Entschlossenheit der Amerikaner. In Wahrheit mußten damals viele Faktoren
zusammenkommen: da war Gorbatschows Einsicht, es geht nicht mehr
weiter und wir wollen nicht mit blutigen Händen nach Europa gehen. Es
waren die Demonstrationen auf der Strasse. Und es waren westliche
Politiker, die den Russen gesagt haben: Ihr seid willkommen. Heute erklären
sich die westlichen Eliten als alleinige Sieger der Geschichte. Das ist falsch
und wird nicht gutgehen.
Ich war vor zwei Jahren in einer Runde mit Helmut Schmidt, wo ihn ein
Journalist aus Weissrussland fragte, wie er die europäischen Chancen
Weissrussland einschätzt. Helmut Schmidt hat ihn derart arrogant
abgewiesen in dem Sinne, Weissrussland ist kein Staat. Es entsteht
manchmal das Gefühl, die Deutschen sind eben zu kleineren Völkern
zwischen sich und Russland etwas unsensibel.
Mich trifft das aber nicht, ich erinnere Sie an mein Engagement für die
deutsch-tschechische Verständigung. Nein, heute empfinde ich viel mehr
Arroganz von diesen westlichen, eigentlich gesicherten, glücklichen Eliten
gegenüber den Völkern, die schlechter dran sind, teils aus Gründen der
© 2015 Dr. Antje
Vollmer